Info Zur Selbstverletzung
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Rasierklingen: Mode? Therapie? Sucht? Erschreckende Krankheit?
Magersucht und Selbstverletzung, Symptome schwerer Erkrankungen, nehmen mehr und mehr zu. Information — und sofortige Therapie — sind unerläßlich. Aus einem elementaren und meines Erachtens absolut hilfreichen Gespräch zwischen dem Psychotherapeuten Wilfried Schneider (für die Zeitschrift “Intra”) und dem Experten Prof. Ulrich Sachsse möchte ich folgende Passagen zur Information für Betroffene und deren Angehörige — als Orientierungshilfe — zitieren:
Intra: Wenn wir von selbstverletzendem Verhalten sprechen, dann sind Menschen gemeint, die sich mit Scherben die Haut einritzen, sich mit Rasierklingen oder einem Messer Schnittwunden beibringen oder sich mit Zigaretten oder einem Bügeleisen Verbrennungen zufügen.
Sachsse: Ja, diese Arten der Selbstbeschädigung sind ganz offensichtlich. Sie fallen besonders auf und sind vielleicht auch deshalb so erschreckend. Man kann dieses Feld aber sogar noch weiter fassen und sagen, es gibt eine grosse Gruppe von selbstverletzenden und selbstschädigenden Verhaltensweisen, die nicht so offensichtlich sind: von exzessivem Sport über ungesunde Ernährung bis hin zu zuwenig Schlaf.
Sie schreiben in Ihrem Buch “Selbstverletzendes Verhalten”, dass heute Ritzen und Schneiden jene Bedeutung haben, die Aorexie in den 70er und Bulimie in den 80er Jahren hatten. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Man kann dazu nur Einfälle sammeln. In diesem Jahrzehnt wird sehr viel über Missbrauch, Misshandlung, Traumatisierung geredet. In früheren Jahrzehnten war es möglich, dem Thema auszuweichen. Wer mit diesem Thema seelisch zu tun hatte, konnte häufig durchs Leben gehen, ohne viel daran erinnert zu werden. Das ist heute sehr schwierig. Themen wie Kindsmisshandlung, aber auch sexueller Missbrauch sind Alltagsthemen geworden.
In der Sprache der Traumatherapie würde man sagen, die “Trigger” sind stärker und häufiger geworden. Das bedeutet, die Auslöserreize haben zugenommen, und Menschen, die dieses Problem haben, werden öfters daran erinnert, kommen in unerträgliche Zustände, und diese Zustände sind besonders gut durch selbstverletzendes Verhalten zu beenden, weshalb diese Symptomatik womöglich besonders zugenommen hat.
Wir sprechen überwiegend von Selbstverletzerinnen. Was ist der Grund dafür, dass es sich meist um Frauen handelt? Gibt es auch Männer, die sich selbst verletzen?
Ja, es gibt auch Männer. Statistisch liegt das Verhältnis zwischen betroffenen Frauen und Männern etwa bei sechs zu eins. Das stimmt recht gut überein mit den Zahlen, die bekannt sind über den sexuellen Missbrauch an Frauen und Männern. Hinzu kommt, dass Männer die Tendenz haben, ob nun kulturell bedingt, gesellschaftlich oder biologisch, mit aggressiven Spannungen so umzugehen, dass sie sich an anderen Körpern abreagieren, also andere angreifen, während Frauen Aggressionen eher gegen sich selber richten. Männer verletzen sich insbesondere dann, wenn sie ihre Aggressionen nicht mehr nach aussen wenden können, z.B. in der Gerichtspsychiatrie oder in Gefängnissen. Da können sie sich nicht nach aussen wenden und richten ihre Aggressivität gegen den eigenen Körper.
Unter den Selbstverletzerinnen befinden sich immer mehr Kinder. Wie ist diese Entwicklung zu deuten?
Ein Punkt ist sicherlich der, dass die Symptomatik inzwischen bekannt und verbreitet ist, und natürlich hat eine Symptomatik gerade unter Jugendlichen sehr leicht Ansteckungscharakter. Es gibt Wellen von Haschischmissbrauch, Wellen von Ecstacy Ausprobieren, Wellen von Anorexie in den 70er Jahren, Wellen von selbstverletzendem Verhalten in Schulklassen, in Heimen, in Institutionen. Da besteht ein hoher Ansteckungseffekt nach dem Motto: “hast Du schon mal ausprobiert?”.
Zum zweiten liegt sicherlich auch eine Entwicklung vor, die der von Suchtkrankheiten ganz ähnlich ist. Auch dort ist leider zu beobachten, dass das Einstiegsalter immer jünger wird. Viele sehr frühzeitig geschädigte, entwurzelte, misshandelte, ausgestossene Kinder entwickeln ja eher so ein Ensemble von Symptomen. Die schnippeln, nehmen mehr oder weniger wahllos irgendwelche Drogen, suchen verzweifelt irgendeine Gruppierung, der sie sich anschliessen können, und es ist fast dem Zufall überlassen, wo sie landen. Für diese Kinder — es fällt mir schwer, Jugendliche zu sagen — ist das ein Symptom unter mehreren. Das beobachten wir auch hier auf unserer Akutentgiftungsstation für illegale Drogen, wo es bereits Zehnjährige gibt, die sich erheblich verletzen.
Eltern, aber auch jene, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, deuten bei der ersten Begegnung mit Selbstverletzung dies als Suizidversuch oder Selbstbestrafung. Von betroffenen Mädchen und Frauen hört man dagegen Erklärungen wie: ‘Damit ich den inneren Schmerz nicht spüre’, ‘Wie wenn innen ein Luftballon immer grösser und grösser wird und ich ihn mit einer Stecknadel anpieckse, bevor er von selbst platzt’. Wer liegt nach Ihrer Erfahrung richtig?
Richtig liegt zweifelsfrei die Patientin. Diese Symptomatik ist etwas sehr Doppelbödiges, sie hat praktisch zwei Gesichter. Für die Patientin ist es sehr häufig eine Form von Selbstfürsorge, eine sehr seltsame Form vom Umgang mit Druckgefühlen, mit Spannung, mit nicht aushaltbaren Erregungszuständen und Stress, und es wirkt dann besser als Medikamente oder Gespräche. Für mich ist es auch eine Frage an die Biochemie: Warum und wie wirkt eigentlich eine Selbstbeschädigung? Wieso hat sie für diese Patientinnen die Wirksamkeit eines Antidissoziativums, wieso wirkt das besser als jedes Medikament, und was sind die Wirkwege? Es wäre schön, wenn wir irgendwann einmal ein Medikament hätten, das wir einer Patientin, die so unter Druck steht und nicht weiss, wie sie aus ihrem Erregungszustand herauskommen soll, die so weggedreht ist, dass sie schon nicht mehr mit anderen sprechen kann, geben könnten und das genauso wirkte wie eine Selbstverletzung. Gleichzeitig hat dieses Symptom eine Wirkung nach aussen. Es ist ein Signal, ein Vorwurf: ‘Die Welt hat mich verlassen, die Welt hat versagt, die Welt war schlecht, die Welt hat mich nicht gut bemuttert. Ich habe nicht gelernt, mit mir umzugehen. Ihr habt alle etwas mit mir falsch gemacht.’
Welchen “Nutzen” haben Mädchen und junge Frauen genau von der Selbstverletzung?
Die Mädchen haben insofern etwas davon, als bei sehr vielen nach einer halben bis einer Minute der Kopf frei ist, die Gedanken klar sind, die Gefühle herunterreguliert sind, der Druck geringer ist, und sie wieder klarer denken, reden, mit sich umgehen und sich kontrollieren können. Sie sind also wieder gesünder. Dieses Symptom wirkt meistens gegen Erregungszustände, die wir als dissoziative Zustände bezeichnen, wo man wie aus seinem Körper herausgetreten ist — man spricht von Depersonalisation — oder wo wir aus der Wirklichkeit herausgetreten sind — man sagt Derealisation, weil wir dann nicht mehr in der Wirklichkeit stehen.
Diese Mechanismen treten oft auf, um einer traumatischen Erfahrung zu entkommen. Wenn jemand misshandelt oder missbraucht, sexuell gewaltsam behandelt wird, aber auch wenn jemand z.B. schwere Kinderkrankheiten hatte und Ärzte dieser Person Schmerzen zufügen mussten, kann es sein, dass die Person lernt, Depersonalisation und Derealisation zu trainieren und gezielt einzusetzen. Wie andere Symptome auch, z.B. Suchtverhalten, kann das Symptom anfangen, ein Eigenleben zu führen. Es kann — wie man sagt — sich generalisieren, sich ausbreiten und von der ursprünglichen Situation ablösen. Dann reagieren Menschen auf jeden Alltagsstress, auf jede Alltagsanforderung mit Depersonalisation und Derealisation und geraten in Erregungszustände.
Das heisst aber nicht, dass die einfache Formel gelten würde, Selbstverletzung gleich missbraucht. Diese Formel ist falsch. Alle Zahlen weisen darauf hin, dass zwei Drittel bis drei Viertel der Patientinnen mit einer häufigen, schweren Selbstverletzungssymptomatik schwere Kindheitstraumata hinter sich haben, das heisst aber, dass ein Viertel bis ein Drittel andere Lebenserfahrungen haben.
Auch ein sehr widersprüchliches Familienklima, eine Situation, wo man konfus wird, wo Verhalten und Sprache sich widersprechen, wo Eltern sagen, ‘wir lieben dich’, sich aber ganz anders verhalten, oder wo Eltern hochgradig aggressiv sind, aber immer wieder sagen, ‘bei uns gibt es keinen Streit’; auch das kann dazu führen, dass man mit seinen Gefühlen nicht zurechtkommt, nicht weiss, was körperliche Spannungszustände gefühlsmässig bedeuten, dem eigenen Inneren gegenüber hilflos ist, dann in Erregungszustände kommt und zu Selbstverletzung greift, um den Kopf wieder klarzubekommen. Also, bitte keine einfachen Formeln. In jedem Einzelfall muss genau nachgeschaut werden.
Gilt das auch für doppelte Botschaften wie “Sei lieb, aber zeige keine Gefühle”?
Alle Doppelbödigkeiten, alle Situationen, wo das eine gesagt und das andere getan wird, wo die Eltern unterschiedliche Botschaften und Anforderungen senden, z.B. ‘Sei lieb und zeige keine Gefühle’, oder aber ‘Leiste ganz viel, aber überflügle uns nicht’ oder ‘es ist genug da’, aber die Atmosphäre ist doch ganz karg. Immer dann entsteht im Inneren eine Verwirrtheit oder Konfusion, eine Widersprüchlichkeit, über die meistens nicht nachgedacht werden kann und darf, über die auch nicht gesprochen werden kann und darf. Immer dann, wenn Widersprüchlichkeiten zweifelsfrei da sind, darüber nicht nachgedacht und gesprochen werden kann, spricht man von “double-bind”, von Doppelbindung. Ein solcher Zustand weckt ganz unerträgliche Gefühle von Hilflosigkeit, Nichtverstehen und Ausgeliefertsein.
Können Sie beschreiben, was beispielsweise in einem Mädchen von 16 Jahren vor sich geht, wenn es die Rasierklinge in die Hand nimmt, sich schneidet, die Wunde sichtbar wird und Blut fliesst?
Meine Patientinnen haben mir eher andere Verläufe geschildert, nämlich dass sie manchmal halbe Tage oder mehrere Tage gekämpft haben gegen den Impuls, sich zu verletzen, dann irgendwann aufgegeben haben und ihre Handlung mechanisch, fast automatisch in einer Art Alltagstrance, etwas weggetreten, manchmal auch neben sich stehend vollzogen haben; eben gerade nicht mit den Fingerspitzen, dem Daumen die Rasierklinge gespürt haben. Wenn sie das könnten, diese Rasierklinge spüren, dann wären sie wahrscheinlich gar nicht so depersonalisiert. Wenn sie spüren würden, wie die Rasierklinge die Hautgrenzen verletzt, dann bliebe es bei ein bis zwei Millimeter, ganz oberflächlich, und dann würden sie das lassen.
Wir machen diese Erfahrungen bei Patientinnen, die wir behandelt haben und die dann wieder ihr normales Körpergefühl entwickeln. Denen fällt es dann zunehmend schwerer, sich zu verletzen, weil der Körper sich anders anfühlt, weil er nicht mehr depersonalisiert ist, weil das Symptom einerseits nicht mehr nötig ist, andererseits aber auch nicht mehr wirkt. Das kann vorübergehend sogar etwas beunruhigend sein, dass eine Möglichkeit, sich abzuregen und sich zu steuern, plötzlich nicht mehr zur Verfügung steht.
Bleiben wir bei dem 16jährigen Mädchen. Was geschieht nun? Wie lange hält beispielsweise das ‘Glücksgefühl’ an? Und was kommt danach? Ein seelischer Kater?
Genau. Es ist eigentlich ein Ablauf, der nach der Verletzung kurzgfristig zur Entlastung, Erleichterung, manchmal sogar einem gewissen Glücksgefühl führt, eine Situation, die vielleicht Leistungssportler oder Bergsteiger kennen oder Leute, die fallschirmspringen. Nach einigen Stunden kommen dann Selbstvorwürfe, Vorwürfe, versagt zu haben, schwach gewesen zu sein, sich nicht gesteuert zu haben. Es kommt zu einem Katergefühl, ein bedrücktes, ödes, leeres, manchmal ein seelisch schmerzhaftes Gefühl. Was vielleicht damit zusammenhängt, dass dieser Kick, der dabei ausgelöst worden ist, sich herunterreguliert. Vielleicht werden wir irgendwann einmal feststellen, dass das Herunterregulieren der Stresshormone dabei mit eine Rolle spielt und es auch ein körperlich depressiver Zustand ist, in den Patientinnen anschliessend kommen. Es beginnen also die Selbstvorwürfe, und manche verletzen sich dann erneut, weil sie sich verletzt haben.
Was unternimmt die Betroffene für die Versorgung der vielleicht tiefen Schnittwunde?
Viele gehen anschliessend erstaunlich selbstfürsorglich mit sich um. Manche versuchen, diese Situation geheimzuhalten und die Wunde zuhause zu versorgen und entwickeln dabei ganz gute Fähigkeiten als Krankenschwester für sich selbst. Sie sind bei dieser Selbstversorgung selbstfürsorglicher als sonst. Andere wenden sich an vertraute Ärzte und sagen, ‘ich bin in die Brotmaschine gekommen’, oder ‘das Messer ist mir abgerutscht’, oder ‘da lag bei uns eine Glasscherbe rum’. Wieder andere vertrauen sich irgendeinem Arzt an und bitten darum, versorgt zu werden, genäht zu werden und nicht gleich in die nächste Psychiatrie eingewiesen zu werden. Wieder andere treten die Flucht nach vorn an und gehen in die nächste Unfallambulanz, wo es ein Glücksspiel ist, auf was für eine Art von Arzt sie treffen. Da gibt es dann Ärzte, die sagen, ‘naja wollen wir nicht gleich einen Reissverschluss einbauen’. Andere sagen, ‘um Himmelswillen, Ihnen muss es aber schlecht gehen’. Wieder andere sagen, ‘Sie können mir erzählen, was Sie wollen. Das war ein Selbstmordversuch. Ab in die nächste Psychiatrie’.
Sicherlich ist es gut, wenn eine Ärztin oder ein Arzt, der die Patientin nicht gut kennt, die mit Selbstverletzung kommt, einen diensthabenden Psychiater hinzuzieht, weil die Abschätzung der Suizidalität tatsächlich nich tleicht ist. Einige sind nach einer Selbstverletzung erst recht suizidgefährdet. Bei anderen ist der Druck weg, die Luft ist raus, es geht ihnen besser. Um das abzuschätzen, braucht man schon ein bisschen Erfahrung, und man kann es auch falsch machen.
Auf jeden Fall würde ich immer jemanden einer psychiatrischen Untersuchung zuführen, der oder die alkoholisiert ist oder unter Drogen steht und sich in einem solchen Zustand selber verletzt hat. Das ist ein Zustand der Unberechenbarkeit, wo ich mich auf nichts verlasse, es sei denn, ich kenne die Patientin gut und kann sie deshalb einschätzen und weiss, wie es ihr geht.
In der Fachliteratur begegnet man oft der Bezeichnung ‘offene Selbstverletzerin’. Was ist damit gemeint?
Es bezieht sich nicht darauf, dass man es sieht, sondern es bezeichnet den Umstand, dass jemand erstens genau weiss, dass sie es selber gemacht hat — ich spreche jetzt überwiegend von Frauen — und zweitens nach einer gewissen Phase der Vertrauensbildung auch in der Lage und bereit ist zu sagen, ‘ja, das habe ich getan’.
Es gibt eine Gruppe von Patientinnen und Patienten, bei denen es so ist, dass sie sich krank machen, sich Verletzungen zufügen und es sich selbst nicht bewusst machen können, schon gar nicht irgendeinem Fremden gegenüber. In einer Grossklinik wie der Medizinischen Hochschule Hannover schätzt man, dass jeden Tag drei bis vier Patientinnen oder Patienten mit einer Krankheit untersucht werden, die an der Entstehung ihrer Krankheit unbewusst oder halbbewusst erheblich mitgewirkt haben.
Diese heimliche Selbstverletzung, die selbstgemachte Krankheit — man benutzt meist das englische Wort “factitious disease”: gemachte Erkrankung — ist therapeutisch noch schwieriger, weil es zunächst darum geht, jemanden überhaupt in psychotherapeutische Behandlung zu bekommen, der oder die fest überzeugt ist, eine körperliche Krankheit zu haben. Das sind Menschen, die sich Schmutzwasser injizieren in die Vene oder in die Blase und zum Arzt gehen mit einer heftigen Entzündung, und die nie und nimmer auf die Idee kämen, dass sie sich dieses Symptom selber gemacht haben.
Stimmt es, dass Selbstverletzerinnen ihre Verletzungen verbergen, ähnlich wie der Alkoholiker seine Flaschen versteckt?
Nach meinen Erfahrungen gibt es zwei Gruppen von Patientinnen. Die grössere Gruppe verbirgt das Symptom gegenüber Menschen, die etwas entfernter sind. Sie wollen das nicht allen auf die Nase binden. Die gehen damit auch nicht ins Freibad, tragen langärmelige Kleidung, nehmen nicht am Sportunterricht teil und schämen sich.
Dann gibt es eine andere Gruppe, die dieses Symptom jedem unter die Nase reibt — auch denjenigen, die es gar nicht so genau wissen und sehen wollen — die fast etwas aggressiv provokant zu ihren Wunden stehen. Sie tragen goldene Rasierklingen am Kettchen oder als Ohrring und haben die Symptomatik so etwas aggressiv zum Bestandteil ihrer jugendlichen Identität gemacht. Sie sind vielleicht auch eingebunden in eine Punk-Kultur, wo es praktisch dazugehört, oder verbinden es mit ausgeprägtem body-piercing oder mit Tätowierung, die die Selbstverletzung zum Stil machen. Diese Gruppe ist klein, kommt aber auch nicht so oft in Behandlung. Für sie ist es sozusagen ein Lebensstil.
Wie soll nun z.B. eine Lehrerin reagieren, die mit dem Problem in ihrer Klasse konfrontiert ist?
Jeder weiss, dass man es beim Umgang mit Jugendlichen, ob als Lehrer, Erzieher, im Freizeitbereich oder auch als Eltern eigentlich immer nur falsch machen kann. Insofern ist es falsch, das Symptom einfach zu übergehen, und es ist genauso falsch, auf dem Symptom herumzureiten. Was nun im Einzelfall die richtige Dosierung ist, ist ganz schwer zu sagen, und niemand sollte sich hinterher Vorwürfe machen.
Ich würde auf jeden Fall etwas so Offensichtliches wie eine Selbstverletzung ansprechen. Ich würde es nicht übergehen. Sehr viele berichten später, ‘eigentlich habe ich ja eine ganze Menge Signale gesandt, und rückblickend finde ich es nicht gut, dass niemand irgendwann das mal angesprochen hat’.
Muss die oder der Betroffene dann vielleicht höher dosieren, um dieses Ziel zu erreichen?
So ist es. Zum zweiten ist es im allgemeinen nicht hilfreich, einen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen unter Gesundungs- oder Genesungsdruck zu setzen. Also zu sagen: ‘Jetzt habe ich mich schon um dich gekümmert, jetzt werde aber bitte auch schnell gesund und ändere dich!’ Am hilfreichsten und schwierigsten ist es sicherlich, mit dem Wissen um eine Symptomatik zu leben und gleichzeitig den Gesprächsfaden aufrechtzuerhalten und mit dem Jugendlichen gemeinsam zu schauen, wo er Ansprechpartner findet, die sowohl kompetent als auch für ihn akzeptabel sind. Das ist nicht immer leicht. Bei leichteren Formen von Selbstverletzung, bei ein-, zweimal, die man mal so mitbekommt, kann es auch richtig sein, sie zu übergehen, denn in der Entwicklung von Jugendlichen gibt es oft Wellen. Es gibt dann eben die Welle, dass alle 25 Uhren mit sich tragen oder sich in einer Klasse alle mal verletzen. Wenn man sich dann auf das Symtom stürzt, kann es auch sein, dass man es gerade besonders interessant macht und dass die Überreaktion der Erwachsenen dazu beiträgt, dass man das Symptom behält, weil man sich damit sowohl interessant machen kann als auch die Erwachsenen zur Verzweiflung bringt.
Welche Erfahrungen haben Sie mit Angehörigen von Selbstverletzerinnen gemacht? Kann es sein, dass Angehörige selbst Hilfe benötigen?
Die Patientinnen, mit denen ich überwiegend arbeite, haben mit nahen Angehörigen keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Die Angehörigen reagieren unsensibel auf die Symptomatik, schieben sie der Patientin allein zu oder sehen sie als das, was sie eben auch ist, nämlich als einen Vorwurf.
Anders ist es bei Freunden und Bekannten, die die Patientin lieben, die sie unterstützen wollen, die ihnen innerlich sehr zugetan sind. Für die ist es oft ein grosses Problem, Selbstverletzungen nicht verhindern zu können. Sie nehmen das persönlich und machen sich Vorwürfe. Sie beziehen viel zu viel auf sich, indem sie fragen: ‘was habe ich falsch gemacht, dass du dich verletzen musst?’ Sie stellen an sich die Erwartung: ‘wenn ich nur ein guter Partner wäre, dann bräuchte meine Freundin sich nicht zu schneiden’.
Alles das spricht für die Partner, spricht für die Freunde, es geht aber auch am Problem vorbei. Durch eine gute Beziehung lässt sich sicher selbstverletzendes Verhalten erheblich reduzieren, und es ist völlig richtig, dass sehr viele Patientinnen viel stabiler sind, weil sie eine solche Partnerschaft haben. Eine noch so gute Beziehung kann aber nicht verhindern, dass Patientinnen von aussen wieder irgendwie getriggert werden, das heisst plötzlich im Fernsehen irgendetwas sehen oder in einer Illustrierten etwas lesen, was sie in einen Ausnahmezustand versetzt. Dann müssen sie sich wieder verletzen, obwohl der Partner eigentlich alles richtig gemacht hat. Ein solches Verhalten erschwert es den Patientinnen auch, mit sich umzugehen. Sie fühlen sich dann zusätzlich schlecht, fühlen sich als Versager, haben auch dem Partner noch das Leben schwer gemacht. Eine gewisse traurige Gelassenheit der Symptomatik gegenüber ist am hilfreichsten und eine gewisse Nähe und dabei gleichzeitig eine Abgegrenztheit, die sagt: ‘Ich mag dich, ich bin da, du kannst mit mir sprechen, aber den therapeutischen Weg wirst du auf deine Weise gehen müssen’.
Ein nicht vorbereitetes Erfragen traumatischer Kindheitserfahrungen bezeichnen Sie in Ihrem Buch als “Kunstfehler”. Wie lösen Sie in Ihrer therapeutischen Arbeit die Problematik, dass Klientinnen in quälenden Träumen mit traumatischen Szenen konfrontiert werden?
Dieses Phänomen ist sehr häufig. Als Kunstfehler bezeichne ich nicht, darüber kurz zu sprechen, sich darüber zu informieren, sondern ein vertieftes in die Einzelheiten gehen und das Thema ausbreiten. Man kann unterscheiden: wenn ein Ereignis dadurch, das man darüber spricht, erträglicher wird, dann ist es wahrscheinlich nicht etwas, das sich traumatisierend aus gewirkt hat, sonder es ist etwas, was im Gedächtnis abgespeichert ist als belastendes Ereignis. Wenn das Sprechen über ein Ereignis dafür führt, dass es einem hinterher deutlich schlechter geht, dass etwas in Gang gekommen ist, was man nicht mehr stoppen kann, dass das Darüberreden zu sogenannten Intrusionen, zu Flash-backs, zu Ausnahmezuständen führt, dann ist dieses Ereignis sehr wahrscheinlich nicht integriert. Es führt eine Art Eigenleben in der Erinnerung, und ein Gespräch ist dann ein Trigger, der unerträgliche Zustände auslöst.
In diesem Falle würde ich immer zu einer Patientin sagen: wir werden uns diesem Thema sehr gründlich, sehr genau und sehr kontrolliert zuwenden, aber vorbereitet. Dieses Thema ist so etwas wie eine Tretmine, und wenn man irgendwo eine Mine entdeckt, geht man ja auch nicht gleich darauf zu und zieht sie aus dem Boden, weil sie dann nämlich explodieren könnte. Man sichert das Feld gründlich ab, bereitet sich vor und geht dann ganz vorsichtig an dieses Thema heran. Das würde bedeuten, mit der Patientin zunächst Stabilisierungsübungen zu machen, mit denen sie lernt, diese schlimmen Erfahrungen zunächst wegzupacken, um dann mit einer der Trauma-Expositionstechniken das traumatische Ereignis aufzuarbeiten, einer Synthese zuzuführen, so dass es hinterher Bestandteil der Erinnerung ist, über die man sprechen kann, ohne dass dies Symptome hervorruft.
In Ihrem Buch wird deutlich, dass die Fixierung ein doch häufig eingesetztes Mittel ist, um selbstverletzendes Verhalten der Patienten zu vermeiden. Halten Sie es für unangemessen, sich selbst verletzende Klientinnen ambulant zu therapieren bzw. in Einrichtungen, wo die Möglichkeit der Fixierung nicht besteht?
Das Buch ist 1993 geschrieben worden, und im Vorwort zur vierten Auflage habe ich deutlich gemacht, dass ich die intensive beziehungszentrierte Arbeit mit diesen Klientinnen und Patientinnen inzwischen nicht mehr so gut finde wie die traumazentrierte Arbeit, die im ersten Teil beschrieben habe. Der Rückgriff auf Fixierungen ist in den letzten Jahren in unserer Klinik eher selten geworden und ist jetzt die Ausnahme. Wir sind sehr viel gelassener dabei, oberflächliche, nicht entstellende Selbstverletzungen eine Zeitlang zu akzeptieren, und wenn eine Patientin vertragsfähig und absprachefähig bleibt, dann ist es nicht geboten, sie zu fixieren und ihrer Freiheit zu berauben.
Fixierung ist dann erforderlich, wenn eine Patientin völlig den Realitätsbezug verloren hat, beispielsweise mit dem Kopf durch eine Glasscheibe geht und in Gefahr ist, Arterien zu verletzen und zu verbluten, wenn sie mit Worten nicht mehr erreichbar ist, auch nicht mit Techniken, die aus der Hypnotherapie kommen, also mit dem, was man sich-auf-die-Patientin-Einschwingen, pacing nennt. Wenn also alle diese Mechanismen versagen und die Patientin ein Verhalten zeigt, in dem sie sich akut gefährdet, ist die Fixierung das kleinere Übel, aber es ist der letzte Ausweg.
Es gibt aber auch eine andere Situation, nämlich die, dass eine Patientin darum bittet, fixiert zu werden. Sie sagt ‘Ich möchte mich nicht verletzen, ich möchte diesen Zustand durchstehen. Ich weiss, nach zwei bis drei Stunden ist er vorbei, und es wäre mir eine Hilfe, wenn ich in dieser Zeit fixiert würde’. Dann sprechen wir darüber, ob das möglich ist, und führen eine Fixierung auf einer geschlossenen Station auf eigenen Wunsch durch. Später lernen diese Patientinnen dann, Krisensituationen dadurch zu bewältigen, dass sie sich vorstellen, für zwei bis drei Stunden fixiert zu sein, sich einfach auf die Couch legen, eine CD auflegen und auf Wiederholung schalten, die Arme hinter den Rücken legen und sagen: ‘für die nächsten drei Stunden bin ich fixiert, um durch diese Situation hindurchzukommen.’ In diesem Falle fixieren wir eine Patientin auf deren Auftrag hin. Die Patientin gibt dazu den Auftrag, und unter diesen Voraussetzungen kann das auch hilfreich sein.
Man muss sich immer klarmachen, dass eine Fixierung eine Hilflosigkeit herbeiführt, und Hilflosigkeit führt zu traumatischen Situationen. Deshalb bedarf es einer gründlichen Abwägung, bevor man beschließt, eine Patientin erneut zu traumatisieren. In Ausnahmefällen bleibt einem nichts anderes übrig, um Leben zu retten.
Wie schätzen Sie es ein, wenn die Abstände des selbstverletzenden Verhaltens einer Klientin sich zwar deutlich vergrössern, die Schnitte dann jedoch tiefer werden als je zuvor?
Eine Erfahrung, die ich auch selbst oft gemacht habe — es ist ein Gesundungsschritt. Ich schätze es so ein, dass die Stabilität insgesamt wächst, dass die Patientin längere Zeit auf die Symptomatik verzichten kann und dass die Symptomatik nicht mehr so gut wirkt, denn sonst brauchte sie sich nicht so tief und so heftig zu verletzen. Das bedeutet, es bedarf jetzt schon einer schlimmeren Schädigung des Körpers, um den früheren Effekt zu erreichen. Offenkundig ist der Körper entwöhnt, er reagiert nicht mehr so wie früher, so dass diese Entwicklung darauf hinweist, dass die Symptomatik sich bessert.
Das bedeutet nicht, dass sie auf einen Schlag weg ist, oder dass es nicht zu Rückfällen kommt, aber sie verändert sich, und es ist ein manchmal belastender, aber mittelfristig zu begrüssender Zwischenschritt.
Erleichtert und befreit von einem diffusen inneren Druck
Bereits als Kind war Astrid (17) hunderte Male durch die Hölle gegangen. Mit 11 Jahren hatte sie begonnen Alkohol zu trinken. “Dann habe ich gegessen um zu kotzen”. Tabletten, Haschisch, Heroin und Koks folgten. Bald nahm sie alles. Das Geld verdient sie vorwiegend auf dem Kinderstrich. Mit 13 Jahren verletzte sie sich auch auf andere Weise. Zuerst drückte sie brennende Zigaretten auf der Haut aus. Und wenn perverse Freier das bei ihr tun wollten, so machte ihr das nichts aus. Und auch hier folgte eine höhere Dosierung. Ritzen und Schneiden, teils bis tief in die Muskulatur gehörten bald zum Alltag. Astrid praktizierte das, was Fachleute “offene Selbstverletzung” nennen. Astrid ist kein Einzelfall. Derzeit geht man davon aus, dass sich allein in Deutschland über 200 000 Menschen auf diese und ähnliche Weise selbst verletzen. Die Zahl ist steigend. Mindestens 90 Prozent sind Mädchen und Frauen, 80 Prozent sind zwischen 16 und 30 Jahren. Inzwischen ist es allerdings auch keine Seltenheit mehr, dass Selbstverletzerinnen jünger als 16 Jahre alt sind. Und, was häufig übersehen wird, immer mehr der Betroffenen sind auf eine neue Art mehrfachabhängig. Sie nehmen Drogen, leiden unter Essstörungen und “schnippeln” — so ihr Wort für die Selbstverletzung. Beispielsweise leidet ein Drittel der Selbstverletzerinnen unter Bulimie. In stationären Einrichtungen der Drogenhilfe ritzen oder schneiden rund 65 Prozent der Klientinnen.
Eltern reagieren hilflos. Eltern, Angehörige, Freunde, aber auch das Personal in Schulen, Freizeiteinrichtungen, Beratungsstellen, ambulanten und stationären Einrichtungen reagieren eher hilflos als helfend. Erste Begegnungen mit den Wunden der Mädchen und Frauen rufen Angst, Erschrecken, Entsetzen, Mitleid oder Aggressionen hervor. Die oft plötzliche Konfrontation macht hilflos. Nach dem ersten Schreck werden nicht selten Vorwürfe gemacht. “Warum tust du das?”. “Mach das nie wieder”. “Willst du dich umbringen?” Oder es wird übersehen, nicht darüber geredet. Oft verbünden sich Mütter insofern mit der Tochter, als sie sich an den Heimlichkeiten beteiligen. Selbstverletzung geschieht nicht mit suizidaler Absicht. Eher ist das Gegenteil der Fall. Es ist eine für Aussenstehende unverständliche Form der Selbstfürsorge. Wie in Trance erfolgt der Schnitt mit der Rasierklinge ins Fleisch, werden sich Brandwunden oder Verätzungen der Haut zugefügt. Erlebt wird das als Lebendigkeit, Erleichterung und Befreiung von einem nicht mehr aushaltbaren inneren diffusen Druck.
Traumatische Erlebnisse als Ursache?
Was ist in der Geschichte der Mädchen und jungen Frauen geschehen, dass sie so für sich sorgen müssen? Massiv gestörte Eltern-Kind-Bindungen, frühe Grenzüberschreitungen, alle Formen körperlicher und seelischer Gewalt, sexueller Missbrauch in der Familie und im familiären Umfeld, Vergewaltigung und frühe Prostitution auf dem Kinderstrich, Missbrauch zur Kinderpornographie sind häufige Gemeinsamkeiten. Letztlich alles Ereignisse, die zum Trauma führen. Die oft verbreitete Meinung, dass es vorwiegend Mädchen und Frauen aus sozial benachteiligten Familien betreffe, ist ein Vorurteil. Sie kommen aus allen Schichten. Das sicher bekannteste Beispiel ist Lady Di. In einem TV-Interview berichtete sie 1996, dass sie nahe der Pulsadern ritzte, sich geplant mit einem Zitronenhobel verletzte, sich in eine Glasvitrine fallen ließ. Andere Mädchen und Frauen praktizieren etwas, das Fachleute “heimliche Selbstverletzung” nennen. Dazu zählt beispielsweise: Urin oder Schmutzwasser injizieren, Desinfektionsmittel trinken oder grosse Mengen von Blut abzapfen. Auch dieser Umgang mit sich selbst hat nicht den Suizid zum Ziel. Allerdings führen, so schätzt Annegret Eckhardt, bis zu 15 Prozent dieser Selbstverletzungen zum Tod. Schliesslich gibt es noch eine dritte Gruppe von Selbstverletzung, die indirekte Selbstschädigung genannt wird. Unfallneigung zählt ebenso dazu wie wahnhafte Angst vor körperlicher Missbildung bis zu psychisch bedingten Schmerzzuständen. Und nicht zu vergessen: Essstörungen und Suchtkrankheiten bilden eine weitere Gruppe der Selbstschädigung.
Anlaufstellen
Speziell für den zitierten Beitrag wurde eine Liste von Anlaufstellen für Betroffene, Angehörige und Fachleute zusammengestellt. Die Adressliste kann auf den Internet-Seiten von intra (www.intra.ch) abgerufen oder kostenlos angefordert werden bei: intra, Seftigenstrasse 23, CH-3007 Bern.
Therapie-Info
Gegen Briefmarken im Wert von DM 3,- kann bei Ulrich Sachsse weiteres Informationsmaterial angefordert werden, das er zusammen mit Luise Reddemann verfasst hat. Darin finden sich u.a. Darstellungen der Phasen des therapeutischen Verlaufes. Adresse:
Prof. Dr. med. Ulrich Sachsse
NLKH Göttingen
Rosdorfer Weg 70
D-37081 Göttingen
Ulrich Sachsse ist Oberarzt an der Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie NLKH Göttingen und Professor an der Universität Kassel.
Wilfried Schneider ist Psychotherapeut und Mitarbeiter einer Fachklinik und therapeutischen Gemeinschaft in Hamburg.